Begegnung mit einem kaum Bekannten 09 Jul 2012

 

Ernst Levy hat sich nie um die Aufführung und Veröffentlichung seiner Werke gekümmert. Heute stehen sie digitalisiert leicht zugänglich zur Neuentdeckung bereit.

Walter Labhart

Mit Busoni teilte er seine Vielseitigkeit als Komponist, Pianist und Musikphilosoph, mit Hindemith das Geburtsjahr, Schaffenseifer,pädagogisches Talent und musiktheoretische Neigungen, mit Schostakowitsch die Anzahl seiner Sinfonien: Ernst Levy hinterliess, als er am 19. April 1981 in Morges starb, deren 15. An Mahler erinnern in ihnen der Einbezug vokaler Partien und die beträchtlichen Dimensionen. Die Erste (f-Moll, 1916), Zehnte (France), Zwölfte (Chamber Symphony) und Dreizehnte dauern rund eine Stunde. Das Schicksal, unveröffentlicht zu sein, teilen sie mit den meisten Werken dieses umfassend gebildeten, trotz strenger Selbstkritik bis zuletzt fleissigen Komponisten.

Die wenigen gedruckten Kompositionen – darunter auch Klaviersolostücke und Lieder – sind mit Ausnahme der 1. Violinsonate in einsätziger Grossform (1932) zu wenig repräsentativ für sein facettenreiches Schaffen. Zu dessen Merkmalen gehören die Vorliebe für absolute Musik und leicht variierte Motivwiederholungen, die häufige Verwendung modaler Harmonien und eine gewisse Archaik. Sein seit 1982 in der Universitätsbibliothek Basel aufbewahrter musikalischer Nachlass wurde vollumfänglich digitalisiert. Alle Kompositionen können neuerdings über die Webseite www.ernstlevy.musicaneo.com heruntergeladen und käuflich erworben werden.

Pianistisches Wunderkind

Am 18. November 1895 in Basel geboren, fiel Ernst Levy bereits als Sechsjähriger auf, als er Haydns Klavierkonzert D-Dur öffentlich vortrug. Neunjährig spielte er ein Konzert von Hummel. Dank aussergewöhnlicher Begabung wurde er auf Veranlassung seines Klavierlehrers Hans Huber vom Gymnasium dispensiert, wobei er seine Examina vorziehen konnte. Mit fünfzehn Jahren beendete Levy sein Studium am Konservatorium Basel. Zur Weiterbildung zog er nach Paris, wo er mit Raoul Pugno zusammenarbeitete, um sich auf eine pianistische Karriere vorzubereiten. 
Obwohl er von der Kritik mit Backhaus, Schnabel und Solomon verglichen wurde und seine Einspielungen von Beethovens letzten Sonaten hohes Ansehen genossen, kam er ohne feste Anstellungen nicht aus. Von 1917 bis 1921 unterrichtete er in Basel, danach schlug er sich in Paris als Pianist und Kulturjournalist durch. Levy berichtete in den Basler Nachrichten über das Musikleben in der französischen Metropole, erteilte Musikunterricht in La Chaux-de-Fonds und Biel und gründete 1928 den Chœur philharmonique de Paris. Nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen verliess er Paris, um in Basel sein Auskommen zu finden. Da er als Jude in seiner Heimat den wachsenden Antisemitismus zu spüren bekam und nirgends engagiert wurde, sah er sich 1941 gezwungen, in die USA auszuwandern. Er dozierte erst am New England Conservatory in Boston und am Bennington College in Vermont, bis er 1949 als Professorial Lecturer in the Humanities an die University of Chicago berufen wurde. Nach 1954 lehrte er am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge und von 1959 bis 1966 als Professor für Musik am Brooklyn College der New Yorker Universität. Da seiner Ansicht nach «die Musik im Grunde kein Kommunikationssystem sei» und sie «eher eine Art Kommunion» bedeute, bemühte sich der Komponist weder um Aufführungen noch um die Veröffentlichung seiner Werke.

Einladend emotionsloser Notentext

Erst in seinen Amerikajahren, die nach der Pensionierung 1966 mit der Rückkehr in die Schweiz endeten, konnte sich Levy schöpferisch zu seinem Judentum bekennen. Er tat dies zuerst 1946 mit dem Chorwerk Cantor’s Kaddish, dann mit Reader’s Kaddish für gemischten Chor, Kantor und Orgel. Das weitgehend polyfone Stück wurde 1951 in die von Kantor David J. Putterman für die Park Avenue Synagogue in New York City zusammengestellte Anthologie Synagogue Music by Contemporary Composers aufgenommen, zusammen mit Beiträgen u. a. von Leonard Bernstein, Paul Dessau, Darius Milhaud, Alexandre Tansman und Kurt Weill.

In den vielen Sonaten für ein Streichinstrument und Klavier und in weiteren kammermusikalischen Werken aus der Amerikazeit fallen einfallsreiche Polyfonie und eine bei allem musikantischen Temperament eher emotionslos kühle Linearität auf. Mit ihrer Bevorzugung von Quarten und Quinten wir-ken die Seven Piano Pieces (1946) klanglich sehr herb. Das Fehlen jeglicher Sinnlichkeit erschwert den spontanen Zugang nicht nur zur Klaviermusik und den Sonaten für diverse Instrumente mit Klavierbegleitung, sondern auch zum sinfonischen Schaffen. Die 15. Sinfonie (1967), deren Architektonik an Bruckner gemahnt, beeindruckt vor allem ihres tiefen Ernstes und der kontrapunktischen Meisterschaft wegen.

Wie Josef Matthias Hauer auf Ausdrucksbezeichnungen verzichtend, bietet Ernst Levy den Interpreten einen gleichsam reinen, emotionslosen Notentext an. Diese Art von Neutralität findet in den zahlreichen Werken für unbestimmte Besetzung ihr natürliches Gegenstück. Hatte der junge Komponist im einsätzigen, rhapsodischen Quintett c-Moll für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass (1916) in eruptiven Akkordschlägen und bitter-süsser Walzerseligkeit noch starke Gefühle zeigen können, so schien er sie seit den 1930er-Jahren immer mehr zu verbergen. Der durch unbezeichnete Musik entstandene Freiraum für die Ausübenden mag Verlockung sein, ihn gestalterisch zu erobern und sich für ein Lebenswerk einzusetzen, das neu zu entdecken sich besonders in der reichhaltigen Kammermusik lohnt.

Résumé de la page 9

Rencontre avec un inconnu

Peu d’œuvres d’Ernst Levy ont été publiées et celles qui l’ont été sont peu représentatives des nombreuses facettes de son art, exception faite de sa première Sonate pour violon, en un mouvement (1932).

Né à Bâle en 1895, l’enfant prodige Ernst Levy monte sur scène à l’âge de 6 ans, et termine le conservatoire à 15 ans. Il part ensuite pour Paris. La Deuxième Guerre mondiale le pousse à revenir en Suisse, puis à s’expatrier aux Etats-Unis. Il enseignera alors dans différentes écoles prestigieuses : à l’Université de Chicago, au MIT de Cambridge, puis au Brooklyn College de New York. Il ne se préoccupera alors ni de la publication, ni de l’interprétation de ses œuvres. En 1966, ayant pris sa retraite, il revient en Suisse.

Nombre de ses sonates et pièces de musique de chambre font montre d’une polyphonie inventive, mais aussi d’une écriture modale plutôt froide et linéaire. Ses Seven Piano Pieces (1946) sont dominées par des enchaînements âpres de quartes et de quintes.

Résumé : Jean-Damien Humair

Schweizer Musikzeitung Nr. 5 / Mai 2012

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