Originale Programmnotizen von Ernst Levy zu seiner 11. Sinfonie, komponiert in Chicago 1949 11 Feb 2011

 

Mit Ausnahme der Nummern 6, 10 und 12 sind alle meine Sinfonien in einem Satz gehalten. Ich empfand es als notwendig, neue Formen zu entwickeln, die die dialektische Form der Sonate widerspiegeln, und ich dachte, um dies zu erreichen, müsste ich mit dem Ausdruck der dialektischen Idee in einem einzigen Satz beginnen -  die Sonate, wie sie war, in einen Schmelztiegel giessen, mit dem Ziel der Entdeckung neuer morphologischer Kristallisationen. In einer Programmnotiz für meine 5. Sinfonie („Pult und Taktstock", Universal-Edition Nr. 5/6, Mai-Juni 1926) habe ich geschrieben: „Wie auch immer, ich glaube, dass das Schreiben von Sonaten in einem Satz eine Übergangsform ist, und ich spüre die Notwendigkeit, dass man bei Stücken von enormen Dimensionen wieder zu mehreren Teilen zurückkehren wird.“ Als ich diese Aussage machte, hatte ich nicht nur die praktische Schwierigkeit im Sinn, die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten, während man eine erheblich Zeitspanne einem ununterbrochenen Fluss von Musik zuhört. Das Suite-Prinzip ist nämlich nicht nur eine Methode, um den Spielern und Zuhören Luft zu verschaffen. Davor und darüber hinaus ist es ein sehr starkes Formelement, ein Faktor in einer Reihe, die weg vom Naturalismus hin zu einer Spiritualität führt.

Nehmen wir eine hypothetische Sonate in vier Sätzen und stellen wir uns nun das gleiche Werk in einen einzigen Satz verschmolzen vor: Es wird auffallen, dass damit ein Schritt in Richtung Naturalismus gemacht wurde, ein Schritt hin zur Ästhetik des Wagnerianischen Dramas oder, welch’ schrecklicher Begriff, zum Movie-Film. Nur rigide morphologische Disziplin wird solchen Tendenzen entgegenwirken, ein Unterfangen, das nicht vor dem Verfallen in Formalismus gefeit ist. Es ist tatsächlich ein langer Weg bis zur Fähigkeit die Art von Einheit von Inhalt und Form zu erreichen, die es erst erlaubt, dass man ein Werk als „klassisch“ bezeichnen darf. Nun, insofern ein solches Ergebnis erreicht werden kann, sollte ich den ersten Teil meiner Aussage, also dass die einsätzige Form eine des Übergangs ist, nicht weiter verteidigen, auch wenn sie auf der anderen Seite wahr bleibt in Bezug auf die Entfaltung neuer Konzepte zur Anwendung des mehrsätzigen Prinzips. Ich bleibe somit dabei, dass eine einsätzige Sonate (Sinfonie) neben der mehrsätzigen einen eigenständigen Platz inne hat.

Das Hauptmerkmal einer Sonate, welches ihrem Konzept inhärent ist, ist das des „Werdens”, einer „Entwicklung”. Wir sind sozusagen zum Ende eines solchen Werks nicht die selben, die wir zu Beginn des Werks waren. Im Gegensatz dazu ist der Eindruck eines echten polyphonen Stücks wie einer Fuge der des „Seins”, weniger der eines „Werdens”, dieser Eindruck wird aufgrund einer gewissen Missachtung von Zeit als ästhetischem Faktor hervorgerufen. Nun gibt es unterschiedliche Arten, die Idee der Sonate auszudrücken. Zum Beispiel ist es möglich, die dramatische Idee mit der Aufeinanderfolge von kurzen Stücken zu vermitteln. Mit dem auf einem Terrassenkonzept basierenden Arrangement habe ich versucht, dies in meiner 6. Sinfonie zu verkörpern, die aus 21 Stücken besteht und den selbsterklärenden Titel “Sinfonica strofica” trägt.

Diese einfache Bezeichnung passt nun nicht zur 11. Natürlich sind die Teile klar gebildet. Vorrangig sind sie jedoch einzeln zu wichtig, um als Strophen bezeichnet zu werden, und sind auch nicht wie Strophen verbunden oder voneinander getrennt. Ausserdem, während einige ausschliesslich auf ihre Plazierung im Ganzen angewiesen sind, um die Erreichung eines besonderen Moments in der Entwicklung zu manifestieren, kann ein lyrisches Stück abhängig vom seinem Auftreten eine Dramatik vermitteln – eine Wiederholung oder Wiederaufnahme hat eine andere Bedeutung wie eine Exposition, was die Wichtigkeit der musikalischen „Topologie” klar macht, einige sind im Sinne der klassischen „Entwicklung” im Kern dramatisch.

Allerdings, selbst wenn die bekannten Elemente des Dramas im Werk leicht zu erkennen sind, sind sie dennoch dem Entwicklungskonzept, das der topologischen Idee zugrunde liegt, untergeordnet, einer Idee, die selbst wiederum das Ergebnis einer Bewegungsform ist. Im vorliegenden Fall kann diese Form als eine Vor- und Zurückbewegung beschrieben werden oder als eine Kreisbewegung vom Ausgangspunkt zum Ausgangspunkt, immer unter Berücksichtigung der eigentlichen Unzulässigkeit solcher Vergleiche. Das ästhetisch vom Beginn der Sinfonie weit entfernteste Stück ist der langsame Satz für Schlagwerk und Posaunen. Wenn wir nun die übliche, wenn auch nicht ganz legitime, Übertragung von Zeitkonzepten in Raumkonzepte anstellen, können wir es als das zentrale Stück bezeichnen. Diesem Raumblick weiter folgend können wir sagen, dass sich das Werk symmetrisch aus der Mitte heraus auffaltet, zunächst streng, was die das zentrale Stück direkt flankierenden Teile betrifft, aufgelockerter die weiteren Teile, wo die gänzlich andere Bedeutung, die durch ein Folgen „der gleichen Strasse in entgegengesetzte Richtung” erfahren wird, in die „Musik eingebaut” ist, um das topologische Phänomen zu betonen und auszuarbeiten.

Das ist, in so wenig Worten wie möglich, das allgemeine Erscheinungsbild meiner 11. Sinfonie, zusammen mit den Ideen, aus denen sie geformt ist, und deren historischen Verbindungen. Die erste Aufgabe bei der Annäherung an ein neues Werk ist es, zu einer Sicht der Gesamtform zu gelangen und die Idee zu erkennen, die diese Form hat entstehen lassen. Das ist nicht einfach, da der Hörer während des Zuhörens eine Vision des Werks in Gänze entwickeln muss, eine Herausforderung an Gedächtnis und Einbildungskraft. Daher wird die wohl dringlichste “Erste Hilfe” mit einer rauschenden morphologischen Exposition angeboten, die es dem Zuhörer leichter machen kann, das weitere Werk zu antizipieren. Es ist erhofft, dass die vorausgegangenen Bemerkungen diesen Zweck erfüllen.

 

Comments

Log in to post a comment