Thüring Bräm. Ernst Levy: Ein Komponist neben den Zeiten 18 Jun 2010

 

Die äussere Laufbahn: Wunderkind, Pianist und Pädagoge.

Als ausführender Musiker gehört der 1895 geborene Ernst Levy zu den bedeutenden Schweizer Pianisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der bekannte Musikkritiker Andrew Porter nannte ihn im gleichen Atemzug mit Schnabel, Solomon, Backhaus und Kempff und rückte ihn auch in die Nähe von Busoni, der wie Levy Pianist, Komponist, Musiktheoretiker und Musikphilosoph war ('New Yorker' vom 30. Mai 1977). Leider existieren nur wenige Aufnahmen von Levys Wirken. Die Aufzeichnungen, die es in Form von privaten Bändern und Radioproduktionen gibt, zum Beispiel Haydn-Sonaten, Beethovens opp.106 und 111, Schumanns Etudes symphoniques, die Sonate von Liszt sowie Brahms' Händel-Variationen und sein op. 118, sind in Brillanz und Tiefendimension überwältigend.


Aus Tagebuchaufzeichnungen von Levys Erzieherin können wir die Stationen in der Entwicklung seiner ausserordentlichen musikalischen Begabung verfolgen. Seine Karriere als Pianist beginnt er als Sechsjähriger in Basel, wo er 1901 mit dem D-Dur-Konzert von Haydn erstmals öffentlich auftritt. 1904 folgen ein Konzert von Hummel und Mendelssohns Capriccio in h-moll. 1906 schreibt sein Lehrer Hans Huber an den Rektor des Gymnasiums, worauf Levy aufgrund seiner aussergewöhnlichen Begabung von der Schule dispensiert wird und seine Examina vorziehen kann. 1910 schliesst er seine Studien am Konservatorium Basel ab und geht dann zu Pugno nach Paris, um sich weiter auszubilden. Hans Huber widmet ihm sein D-Dur-Klavierkonzert, das Levy unter anderem in Berlin aufführt. Seine Entwicklung als Wunderkind und seine frühe Karriere verschaffen ihm schon 1917 eine Stelle an der Berufsschule in Basel. Er verlässt diese Position 1921, um nach Paris zu gehen. Sein musikalisches Talent scheint sich in Basel ausgelebt zu haben; er fühle sich 'wie Kaffeesatz', wie er einmal selber sagt.


Neben seiner pianistischen und kompositorischen Tätigkeit beginnt Levy sich nun auch journalistisch zu betätigen. So schreibt er regelmässig Musikerbriefe an die 'Basler Nachrichten', in denen er das ereignisvolle Musikleben der frühen zwanziger Jahre in Paris schildert; Strawinsky, Milhaud, Honegger sind Namen, die häufig Erwähnung finden. 1928 gründet er den 'Choeur Philharmonique de Paris', mit dem er die grossen Chorwerke aufführt und sich als Dirigent profiliert. Er beginnt, eigene Chorwerke zu schreiben. Unterdessen reist er monatlich nach La Chaux-de-Fonds, um dort die Berufsklasse zu unterrichten.


Im Zuge der politischen Ereignisse der dreissiger Jahre versucht Levy, nochmals in der Schweiz Fuss zu fassen, doch zeigt es sich bald, dass er nicht willkommen ist. Er emigriert in die USA, wo er eine brillante Karriere durchläuft, unter anderem 1941 bis 1945 am New England Conservatory Boston, ab 1945 als Lehrer am Bennington College in Vermont, ab 1949 an der University of Chicago, ab 1954 am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, 1959 bis 1966 als Professor für Musik an der New York University (Brooklyn College). Nach seiner Pensionierung kehrt Levy in die Schweiz, nach Morges am Genfersee, zurück und taucht am Konservatorium Basel als staatlicher Prüfungsexperte nochmals auf. Er stirbt an Ostern 1981 in Morges im Alter von 86 Jahren.

Die innere Laufbahn: Der Komponist

Ernst Levy bezeichnete es als 'Glücksfall', dass er einen Teil seines Lebens in Amerika verbringen musste. Ein Glücksfall insofern, als es an amerikanischen Universitäten für ihn die Möglichkeit gab, als vielseitiger 'Humanist' eine Existenzgrundlage zu finden, ohne kreativ eingeschränkt zu werden und ohne am Marktfeilschen des Big Business in der Musik teilnehmen zu müssen. Der Preis dafür war das Beiseitestehen; viele seiner Werke, etwa die 15. Sinfonie, hat Levy nicht gehört. Dabei litt er zwar darunter, dass er wenig aufgeführt wurde, konnte sich aber durch seine kompositorische Aktivität bis zum Schluss kreativ offen halten.


Diese Fähigkeit, seine Kreativität ohne grosse Zuhörerschaft aufrecht zu erhalten, stimmt mit Levys Vorstellung überein, dass Musik im Grunde kein Kommunikationssystem sei. Er wollte nicht in erster Linie durch Musik Mitteilungen an eine Zuhörerschaft machen. Musik war für Levy eher eine Art 'Kommunion', durch die er seine philosophische Haltung und sein Verständnis vom Universum mit andern teilen konnte. Sein Urteil über die Aufführungen seiner eigenen Werke (und über musikalische Interpretation überhaupt) kann unter diesem Gesichtspunkt am ehesten verstanden werden: 'Es gibt diejenigen, die verstehen, und diejenigen, die nicht verstehen.'


Nachdem Levy 'seinen' Stil gefunden hatte (in den Pariser Jahren 1925 bis 1930), änderte er ihn nicht mehr. Er schrieb sozusagen stets am gleichen Prinzip, wobei er darum rang, seine Inhalte in eine immer klarere und deutlichere Form zu bannen. (In dieser Besessenheit, den eigenen Geist bis ans Lebensende zu einer immer präziseren Aussage zu zwingen, betrachtete er seine letzten Jahre anekdotisch und humorvoll als Wettlauf mit Verdi und dessen Schaffenskraft.) So gelangen ihm in seinen letzten Lebensjahren so vitale Werke wie zum Beispiel die 'Sonata for Ten' von 1980.


1963 schrieb Levy für die Zeitschrift 'Chord and Discord' (2 [1963], 163/4) einen Aufsatz über Anton Bruckner. Dieser einschlägige Artikel scheint mir ein Schlüssel zu Levys eigenem musikalischen Denken zu sein, insbesondere in der Determiniertheit, das gleiche Material immer wieder neu zu formulieren, um dabei etwas näher an die Wahrheit heranzukommen.

Die [sc. den Brucknerschen Sinfonien] innewohnende Dramatik entspringt nicht so sehr einem Konflikt, einer Dialektik, als einem Querschnitt von Zuständen, die in einer Folge von Strophen verkörpert sind. So sind alle Symphonien gebaut, sodass es nicht übertrieben ist zu behaupten, Bruckner habe eine Symphonie in neun Versionen geschrieben. Man wird sich darüber sehr wundern - und das ist nicht erstaunlich in einer Zeit wie der unsrigen, in der 'neu' automatisch den Beigeschmack von 'besser' erhält und 'besser' nur in Zusammenhang mit 'neu' gedacht werden kann, und in der man beinahe vergessen hat, dass die wesentlichen inneren Erfahrungen immer dieselben sind und gleichzeitig immer neu. Bruckners Musik jedoch ist tief traditionsgebunden. Seine Art gleicht stark derjenigen des östlichen Künstlers, der das gleiche Sujet immer und immer wiederholt, indem er sich dem Göttlichen langsam nähert, indem er vielleicht während seines ganzen Lebens nichts anderes als Bambus malt.
Diese Ausführungen über Bruckner kommen Levys eigenem Stil sehr nahe. Als gutes Beispiel soll hier die 'Sonata strofica' (1970), ein Werk für ein grosses Kammerensemble, erwähnt werden. Schon der Titel weist auf die besonderen Stilmerkmale hin. 'Sonata' wird hier als klingendes Stück im weitesten Sinn verstanden, nicht im Sinne der Beethovenschen Sonate, die aus der Entwicklung von Thematik und Motivik und deren dialektischen Gegenthematik und -motivik eine Spannungslinie erzeugt. Viel eher treffen sich hier weitgehend lyrische Sätze wie Strophen, die sich aus einer 'primären Klangfigur' fächerartig in die verschiedensten Richtungen ausbreiten.


Nach seinen früheren Vorbildern gefragt, antwortet Levy, er habe keine eigentlichen Vorbilder gehabt, es gebe nur Komponisten und kompositorische Geisteshaltungen, denen er sich nahe, verwandt fühle. Als Kenner der abendländischen Musikgeschichte beeinflussen Levy historisch so fern liegende Phänomene wie die aus dem Melodischen herauswachsende Dissonanz- und Konsonanzspannung der Musik des 13. Jahrhunderts. Auch die Geisteshaltung Monteverdis, bei dem das Poetische und das Musikalische auf gleicher Ebene stehen, liegt ihm näher als die seine eigene Zeit bestimmenden Komponisten Schönberg und Strawinsky. Hierher gehört zum Beispiel sein 1969 entstandenes Werk 'A Musical Gathering', ein 'musikalisches Fest' für zehn Spieler, dessen Aufführung Levy am liebsten in einem italienischen Renaissancepalast in Analogie zu den italienischen Frühformen der Oper gesehen hätte.


Gegenüber den Zeitgenossen Schönberg und Strawinsky nimmt er kritisch Stellung. Strawinskys Neuerungen auf rhythmischem Gebiet scheinen ihm eindrücklich, obwohl er die statische Motorik, etwa im 'Sacre du prin¬temps', nicht liebt. 'Diese Musik schreitet nicht voran, sie tritt an Ort.' Er sieht darin eine Mechanisierung der Musik, die zu einer 'Verknöcherung, Entseelung und vor allem Entmenschlichung des Musikmachens' führt und 'leider Ausdruck unserer Zeit ist' (Brief vom 21. Dezember 1921 aus Paris). Die Organisation der Tonhöhen in Schönbergs Zwölftonmusik empfindet er als zu theoretisch, zu unnatürlich. Durch den vermehrten Einfluss der technischen Medien (in der Schallplattenproduktion und in der elektronischen Musik) entgleitet dem Menschen die direkte Spontaneität des kreativen Gestaltens. Aus dieser Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit entsteht Levys eigener Stil, uneinreihbar, gleichsam 'neben der Zeit'. In seiner kleinen Selbstbiographie in der Zeitschrift 'Musique' des Konservatoriums La Chaux-de-Fonds (38 [1971], 1-7) nimmt er selbst Stellung zu seiner eigentümlichen Situation des 'Neben-der-Zeit-Stehens':

Als ich 1920 nach Paris kam, galt ich ein wenig als 'alter Zopf'.
Als ich Paris 20 Jahre später verliess, betrachtete man mich als 'zu fortschrittlich'. Eigentlich hatte ich mich nicht wesentlich verändert.

Kussewitzky musste die Dritte Sinfonie vom Programm streichen, weil sie zu 'modern' sei, das gleiche geschah aus Angst vor einem Skandal mit der Fünften Sinfonie in den dreissiger Jahren in Utrecht.
Levy sträubte sich dagegen, eingereiht zu werden - und er lässt sich auch schlecht einreihen. Er hat einen ihm ganz eigenen Stil entwickelt. Wo immer wir Levy und seine Musik in der Geschichte einordnen wollen, überzeugend bleiben an seiner Gesamtgestalt seine Ehrlichkeit und seine Kompromisslosigkeit in Bezug auf seine Geisteshaltung und sein Komponieren.

Theoretiker und Schriftsteller

Obwohl Levys zentrale Bedeutung als Musiker in seiner pianistischen und kompositorischen Tätigkeit liegt, muss er auch als Theoretiker und Schriftsteller erwähnt werden. Neben seiner musikalischen Ausbildung folgt er in Basel musikwissenschaftlichen, philosophischen und kunsthistorischen Kursen an der Universität. In Amerika hält er Vorlesungen, die weit über musikalische Detailfragen hinausgehen. Dort schreibt er gemeinsam mit seinem Freund Siegmund Levarie das Akustikbuch 'Tone' und später veröffentlicht er, wieder in Zusammenarbeit mit Levarie, ein zweites Buch, den 'Dictionary of Musical Morphology'. Sein Humor und seine Gedankenschärfe lassen sich in zahlreichen historischen Artikeln, insbesondere aber auch in seinen 'Rapports entre la musique et la societe' (1979), nachvollziehen. In den anekdotischen Aphorismen dieser kleinen Gelegenheitssammlung stehen Bemerkungen, die Anstösse zu tieferen Ueberlegungen geben und zugleich typisch sind für Levys Ausdrucksweise: 'Die Hypermodernen sind oft Romantiker, die sich genieren.' Und: 'Man muss ständig in Musik denken, viel selber machen, wenig hören.'

Thüring Bräm

 

Kommentare

Melden Sie sich an, um einen Kommentar zu hinterlassen